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Jetzt anmeldenDie Belastungen in der Pflege führen zu hohen Ausfallquoten. Eine Studie der AOK zeigte, dass Pflegekräfte 2022 an 32 Kalendertagen krankheitsbedingt ausfielen. Das waren im Durchschnitt acht Fehltage mehr als in anderen Berufsgruppen. Eine weitere Studie der AOK aus dem Jahr 2023 gibt Aufschluss über die Gründe, die zu den Krankheitstagen führen: Knapp 20 % der Fehlzeiten waren bedingt durch Muskel- und Skelett-Erkrankungen – über alle Berufsgruppen hinweg. Dies verdeutlicht die Relevanz innovativer Lösungen zur Prävention von Muskel- und Skelett-Erkrankungen, die insbesondere in der Pflege durch schwere körperliche Arbeit vermehrt auftreten können.
Algorithmus zur Erfassung gesundheitsschädigender Haltungen von Pflegepersonal
Die Wissenschaftler*innen des Zukunftslabors Gesundheit beschäftigen sich in ihrer Forschung mit dem Einsatz digitaler Technologien zur Prävention von Gesundheitsschäden. Im Forschungsjahr 2023 hatten sie bereits ein System aufgebaut, das die Haltung und Belastung von Pflegepersonal beim Umlagern von Patient*innen erfasst und visualisiert. Dieses System besteht aus Tiefenkameras, die Umrisse der Pflegekräfte erfassen, Inertial Measurement Units (IMUs), die Bewegungen und Ausrichtungen messen, sowie Kraftmessplatten, die Daten über Kraft, Druck, Schwerpunktbewegung und Dynamik sammeln. Ziel der Wissenschaftler*innen ist es, ein Alarmsystem für Pflegekräfte zu entwickeln, das sie auf gesundheitsschädigende Haltungen hinweist. Im Forschungsjahr 2024 visualisierten die Wissenschaftler*innen die Daten aus den Sensoren. Dadurch können Pflegekräfte sehen, welche Haltungen sie vermeiden sollten. Grundlage dieser Visualisierung ist ein Algorithmus, der die tatsächlichen Gelenkwinkel mit den im Arbeitsschutz festgelegten Grenzwerten vergleicht. Diese Grenzwerte verdeutlichen, welche Winkel potenziell belastend oder schädlich sind.
Analyse und Bewertung von Technologien zur Bewegungserfassung
Des Weiteren analysierten die Wissenschaftler*innen Technologien zur Bewegungserfassung in drei Anwendungsbereichen: stationärer Bereich (z. B. Krankenhaus, Pflegeeinrichtung), Rehabilitationszentrum und private Wohnung. Diese Analyse führten sie anhand der Delphi-Methode durch – ein strukturiertes Verfahren, das häufig für Prognosen oder zur Entscheidungsfindung in komplexen Situationen genutzt wird. Die Methode basiert auf einer Befragung von Expert*innen in mehreren Runden. Ziel ist es, ein breit fundiertes Ergebnis zu erhalten.
Zunächst recherchierten die Wissenschaftler*innen im Rahmen einer Literaturanalyse, welche Technologien zur Bewegungserfassung im Gesundheitsbereich genutzt werden und wie etabliert diese bereits sind. In einem ersten Workshop bestimmten sie insgesamt zehn Technologien, die sie untersuchen wollten. Dazu zählen z. B. Thermalkameras, die Temperaturunterschiede zwischen Personen und der Umgebung feststellen und dadurch Umrisse von Bewegungen und Personen erkennen können. Ein weiteres Beispiel ist das Motion-Capture-System der Firma Vicon. Hierbei werden die Gelenke von Personen mit speziellen Punkten markiert, die von Kameras erfasst werden. Das Vicon-System gilt als äußerst präzise und zuverlässig, ist aber auch sehr kostenintensiv und nicht flexibel genug, da die Gelenke sehr präzise markiert werden müssen. Daher bezogen die Wissenschaftler*innen auch andere Varianten in ihre Überlegungen ein, z. B. ein kostengünstiges kinesiologisches Tape als Alternative zu den speziellen Vicon-Punkten. Anschließend definierten sie neun Evaluationskriterien, darunter Genauigkeit, Kosten, Mobilität der Technologie, Datenschutz, technologische Reife und Robustheit von Sensoren. Nach dem ersten Workshop bewerteten die Wissenschaftler*innen die Technologien individuell anhand der festgelegten Evaluationskriterien.
Die Ergebnisse der ersten Evaluationsrunde wurden im zweiten Workshop diskutiert. Daraufhin erstellten die Wissenschaftler*innen für jeden Anwendungsfall eine Persona, also eine fiktive, aber realitätsnahe Darstellung typischer Nutzer*innen: Für den Anwendungsfall stationärer Bereich definierten sie eine Pflegefachkraft, die Patient*innen umbetten oder in Rollstühle heben muss. Ihre Bewegungen und körperlichen Belastungen werden mithilfe digitaler Technologien erfasst. Die Persona im Rehabilitationszentrum ist eine Physiotherapeutin, die eine Gruppe von mehr als zehn Patient*innen betreut. Sie nutzt digitale Technologien, die ihre Patient*innen bei der richtigen Ausführung der physiotherapeutischen Übungen unterstützen. Die Persona im Anwendungsfall der privaten Wohnung ist ein 78-jähriger Patient, dessen Bewegungsmuster mit digitalen Technologien erfasst werden. Er verfügt über sehr geringe digitale Kompetenzen und hat kaum familiäre Unterstützung. Abhängig von diesen Personas variiert die Einsetzbarkeit der Technologien. So kann für die Pflegekraft z. B. ein Shirt genutzt werden, in das ein Wirbelsäulensensor integriert ist, der die Bewegungen beim Umbetten erfasst. Zur Überprüfung, wie gut die Patient*innen ihre physiotherapeutischen Übungen ausführen, ist z. B. die Physiotherapie-App des Zukunftslabors Gesundheit hilfreich.
In einer zweiten Evaluationsrunde bewerteten die Wissenschaftler*innen die Relevanz der Evaluationskriterien für die drei Anwendungsfälle: Wie wichtig ist Evaluationskriterium X für Anwendungsfall Y? So ist der z. B. Datenschutz in der Wohnung (kontinuierliche Datenerfassung) kritischer als im Rehabilitationszentrum (eine Messung pro Woche). Dagegen ist die Genauigkeit in der Wohnung nicht so wichtig wie im Rehabilitationszentrum, weil die Daten in der Wohnung kontinuierlich und im Rehabilitationszentrum deutlich seltener erfasst werden. Die Ergebnisse aus dem Evaluationsranking diskutierten die Wissenschaftler*innen in einem dritten Workshop.
Um einen Einblick in die Ergebnisse zu geben, werden diese im Folgenden beispielhaft vorgestellt: Das System von Vicon erfasst die Bewegungen sehr präzise und zuverlässig, der Aufbau ist aber sehr langwierig und der Messbereich erfolgt nur stationär zwischen den Kameras. Die kostengünstigere Variante mit dem kinesiologischen Tape lieferte im Anwendungsfall des Rehabilitationszentrums gute Ergebnisse, ist aber für den stationären Bereich und in der privaten Wohnung zu aufwendig. Der Wirbelsäulensensor eignet sich sehr gut zur Erfassung der Rückenhaltung, ist aber nicht für andere Körperteile nutzbar. Die Thermalkamera hat viel Potenzial für die Datenerfassung in der privaten Wohnung.
Die Delphi-Methode war für unsere Analyse sehr geeignet. Wir kommen aus verschiedenen Forschungsdisziplinen und haben unterschiedliche Erfahrungen mit digitalen Technologien zur Bewegungserfassung gemacht. Durch die Delphi-Methode hatten alle das gleiche Mitspracherecht, unabhängig von ihrer Erfahrung mit der jeweiligen Technologie. Dadurch konnten wir sowohl Erfahrungswerte als auch neue Blickwinkel in unsere Auswertung einbeziehen. Aus den Ergebnissen werden wir Handlungsempfehlungen formulieren, um aufzuzeigen, welche Technologien für welchen Anwendungsfall infrage kommen.
Digitale Technologien können nicht nur eingesetzt werden, um gesundheitsschädigende Körperhaltungen zu erfassen. Sie können auch auf Umweltfaktoren aufmerksam machen, die den Gesundheitszustand von Patient*innen belasten können. Zu diesen Faktoren zählt u. a. der Feinstaub, der Atemwegs- und Herz-Kreislauf-Erkrankungen verursachen oder verstärken kann.
Digitales Dashboard zur Anzeige gesundheitsschädlicher Umweltfaktoren
Im Forschungsjahr 2023 hatten die Wissenschaftler*innen bereits begonnen, eine digitale Anzeige zu entwickeln, die über den Feinstaubgehalt in Zimmern von Patient*innen informiert. Gemeinsam mit Studierenden der Angewandten Pflegewissenschaft hatten sie Anforderungen an diese Anzeige identifiziert und einen ersten Prototyp in Papierform entwickelt. Daran knüpften sie im Forschungsjahr 2024 an. Daraufhin erstellten die Wissenschaftler*innen einen digitalen Prototyp, der die Belastung durch Feinstaub im Patient*innenzimmer visualisiert und bewertet.
Auf der digitalen Anzeige wird die allgemeine Bewertung des Feinstaubrisikos visualisiert. Links sind die aktuellen Feinstaubwerte, der Durchschnittswert der letzten Stunde und der Trend angegeben. Die Farbskala in der Mitte bewertet das Gesundheitsrisiko. Rechts stehen die Grenzwerte, die das Fachpersonal festlegt. Werden diese Werte angepasst, verändert sich auch die Skala in der Mitte.
Eine weitere Anzeige veranschaulicht das personalisierte Risiko für eine fiktive Patientin. Das 1.000-Personen-Diagramm auf der rechten Seite zeigt an, wie viele Personen von 1.000 durch Feinstaub geschädigt werden. Dies soll den Patient*innen dabei helfen, das Risiko von Feinstaub für ihre eigene Gesundheit bewerten zu können.
Darüber hinaus enthält die digitale Anzeige eine Übersicht mit mehreren Patient*innen. So erhalten die Pflegekräfte einen schnellen Überblick und können gezielt Maßnahmen zur Reduzierung des Feinstaubwertes einleiten, sobald dieser im kritischen Bereich liegt.
In weiteren Workshops mit zuvor noch nicht beteiligten Studierenden ermittelten die Wissenschaftler*innen, wie intuitiv der Prototyp ist. Hierfür nutzten sie die Thinking-Aloud-Methode. Dabei handelt es sich um eine Forschungsmethode, die häufig in Usability-Tests, in der Psychologie und in der Kognitionsforschung verwendet wird. Die Teilnehmer*innen werden gebeten, während sie eine Aufgabe bearbeiten, ihre Gedanken laut auszusprechen. So geben sie kontinuierlich Einblicke in ihre Überlegungen, Entscheidungen und Schwierigkeiten. Das Verfahren ist besonders geeignet, um die Benutzerfreundlichkeit von Produkten und Software zu evaluieren und Schwachstellen aufzudecken. Die Studierenden empfanden die Farbskala als sehr hilfreich und wichtig. Zudem gefielen ihnen die Informationen zum Trend, da dieser einen längeren Zeitraum widerspiegelt. Außerdem schlugen sie vor, dass das Fachpersonal die Möglichkeit haben sollte, die Grenzwerte selbst anzupassen. Das war vor der Evaluation noch nicht möglich. Des Weiteren gaben sie zu bedenken, ob alle Patient*innen das 1.000-Personen-Diagramm richtig deuten könnten. Allgemein fragten sie sich, ob diese digitale Anzeige zusätzliche Arbeit für die Pflegekräfte verursache, weil sie nun zusätzlich gefordert seien, Patient*innen Gesundheitsrisiken im Zusammenhang mit Feinstauberklären, ihre Fragen zu beantworten und sie im Falle eines hohen Risikosberuhigen. Die Wissenschaftler*innen des Zukunftslabors werden dieses Feedback in ihre weiteren Überlegungen zur digitalen Anzeige des Feinstaubrisikos einbeziehen.